Süddeutsche Zeitung, 27. März 2014

 

Miss American Pie

In Iowa steht das Holzhaus, das durch ein Gemälde Grant Woods weltberühmt wurde. Beth Howard wohnt darin – und backt Apfelkuchen für Touristen

 

Ashlyn Martin hat ihren Lieblingssender eingestellt, der den ganzen Tag Country spielt. Jetzt läuft eine Ballade. Der langsame Rhythmus passt nicht recht in die Küche ihrer Chefin Beth Howard, denn deren Takt ist schnell. Auf dem Tisch stehen rund 30 Kuchenformen, ausgelegt mit Mürbeteig. Die 17-jährige Ashlyn und ihre Kollegin LeAnn Luedke füllen sie mit gezuckerten Blaubeeren. Schnell noch die 30 Teigdecken ausrollen, drüberlegen und den überlappenden Rest mit einer Schere abschneiden. In die nächsten 30 Formen sollen Erdbeeren und Äpfel, doch die Erdbeeren schwimmen noch im Waschbecken. „Tempo, Ladys, in einer Stunde sind die Leute da“, ruft Beth Howard im Vorbeigehen. „Der Kuchen muss nicht perfekt geformt sein wie ein Industrieprodukt“, sagt sie. „Er ist hausgemacht, und so soll er auch aussehen.“

     Beth Howard – blonder Pferdeschwanz, blaue Chucks, rote Schürze über der Jeans – breitet eine rot-weiß karierte Decke über den Klapptisch im Wohnzimmer nebenan und stapelt Pappteller darauf. An die hundert Gäste werden gleich an diesem Tisch Schlange stehen und neugierig durch die Wohnzimmertür in die Backstube schauen. Die meisten haben stundenlange Autofahrten hinter sich – und sind hungrig. 

     Aus ganz Amerika kommen Howards Kunden hierher, in eine Kleinstadt namens Eldon in Iowa. Man könnte hier mit dem Rad an endlosen Maisfeldern vorbeifahren. Oder mit dem Kanu an den grün bewachsenen Ufern des Des Moines River entlang, der weiter südlich in den Mississippi mündet. Doch die meisten der jährlich etwa 15 000 Gäste bleiben nicht über Nacht, sie wollen nur das weiße Holzhaus sehen, das Beth Howard bewohnt. Der Maler Grant Wood hat es 1930 durch sein Gemälde „American Gothic“ berühmt gemacht. Das nach dem Baustil des Hauses benannte Bild zeigt einen mürrisch dreinschauenden Farmer mit Mistgabel und seine altjüngferliche Tochter, im Hintergrund steht das Haus mit dem gotischen Fenster. Wood reichte das Werk bei einem Wettbewerb am Art Institute of Chicago ein, knapp 400 Kilometer nordöstlich von Eldon, wo es bis heute hängt. Er gewann den dritten Platz und 300 Dollar. Heute ist es eines der berühmtesten Gemälde der USA, auch, weil umstritten ist, ob es nun eine Satire oder eine Hymne auf das puritanische, ländliche Amerika sein soll.

     Das denkmalgeschützte Gebäude gehört dem Bundesstaat Iowa. Der vermietet das Haus seit Jahren an Privatleute, damit es nicht verkommt – Eisenbahner, Postboten und eine Lehrerin lebten hier bereits. Und jetzt die 50-jährige Autorin und Food-Bloggerin Howard, die weiß, wie man verdammt guten Kuchen backt – oder Pie, wie sie ihn hier nennen.

     Nur wenige Wochen nachdem Beth Howard im September 2010 eingezogen war, berichteten nationale Medien über Eldon. Und auch unter den Einwohnern sprach sich schnell herum, dass die Frau, die jetzt im American Gothic House wohnt, schon einmal in einem Promi-Café in Malibu gebacken hat – für Barbra Streisand, Steven Spielberg, Mel Gibson und Robert Downey Junior. Einige kannten ihren Food-Blog, der theworldneedsmorepie.com heißt. Beth Howard hatte ihre Kisten noch nicht ausgepackt, da stand schon die Bürgermeisterin Shirley Stacey vor ihrer Tür – mit einem Willkommenskuchen und mit einer Bitte: Ob sie sich vorstellen könnte, hier in Eldon neben ihrer Schreiberei ihren berühmten Pie zu verkaufen?

     Dass Beth Howard und das Haus zusammenfanden, war Zufall. Nach dem Tod ihres Mannes 2009 war sie aufs Land zurückgezogen. Sie stammt aus Ottumwa, einem Ort, der etwa 20 Kilometer von Eldon entfernt liegt. Das American Gothic House war gerade frei, und Howard verliebte sich in das kleine weiße Holzhaus.

     Hier in Eldon nennen sie es das zweitwichtigste Weiße Haus der Vereinigten Staaten. Dabei wirkt es fast wie ein Puppenhaus. Von der Veranda kommt man direkt ins Wohnzimmer, daneben liegen Arbeitszimmer, Küche und ein Minibad. „Die Wanne ist so winzig, dass ich yogaartige Verrenkungen machen muss, um am ganzen Körper nass zu werden“, erzählt Beth Howard. Man zieht unwillkürlich den Kopf ein, wenn man über die enge Wendeltreppe ins obere Stockwerk steigt, das nur Platz für ein Schlafzimmer bietet. Hier oben bauten Zimmerleute Ende des 19. Jahrhunderts das neugotische Spitzbogenfenster ein.

     Bei den Einwohnern Iowas kam das Gemälde seinerzeit alles andere als gut an. Sie empfanden es als Karikatur, warfen Grant Wood vor, er habe damit das Klischee des puritanischen Bauerntölpels aus dem Mittleren Westen auf die Spitze getrieben. Heute sind sie in Eldon stolz auf sein Werk. Sie haben sonst ja auch nicht viel, das sie vorzeigen können. Es gibt ein ebenfalls denkmalgeschütztes Theater an der Hauptstraße, ein hübsches, backsteinernes Gebäude, zweistöckig, mit glockenförmigen Glaslampen an einer hohen Decke: Das McHaffey Opera House, das all die anderen Häuser überragt, erinnert an bessere Zeiten, als die Eisenbahn und das Frachtzentrum hier noch Arbeit boten. Ende des 19.Jahrhunderts lag Eldon an einer der wichtigsten Bahnverbindungen der USA. Damals führten namhafte Theatertruppen auf der Durchreise Shakespeare und die neuesten Stücke vom Broadway auf.

     Mehr als 2000 Menschen lebten in dieser Zeit hier. Heute sind es gerade mal 900. Vor ein paar Jahren schlossen auch der Kaufmannsladen und das Kino. Bingo gibt es noch, donnerstags im Gemeindezentrum. Viele junge Einwohner sind weggezogen, in Universitätsstädte wie Iowa City und in die Hauptstadt Des Moines weiter nördlich oder gleich ganz an die Küste.

     Doch die Einstellung der Leute zum Leben auf dem Land ändert sich gerade. Hatten Stille und Einsamkeit die Menschen früher abgeschreckt, kommen sie heute deswegen zurück in den Mittleren Westen – so wie Howard. Und ihre Mitarbeiterin Ashlyn Martin, die am örtlichen College eine Ausbildung zur Krankenschwester macht, scheint sich über die Frage eher zu wundern, ob sie für immer hier wohnen wolle. „Klar will ich was von der Welt sehen“, sagt sie. „Aber ich will trotzdem hier in der Gegend bleiben, und die meisten meiner Freunde auch.“

     Heimkehrer wie Beth Howard sind die neue Seite des alten Amerikas, für das der Mittlere Westen wie keine andere Region der USA steht. Viele von ihnen machen sich im Herzland Amerikas selbständig, stellen Farmen auf biologischen Landbau um, produzieren ökologischen Käse oder Bio-Eis. Einige arbeiten als Architekten, andere in der Kunstszene. 2010 veröffentlichte der Sender CNBC ein Ranking der „Top-Staaten für Unternehmer“. Iowa stand immerhin auf Platz sechs von 50. Steuern und Lebenshaltungskosten sind niedrig – Beth Howard zahlt im Monat 250 Dollar Miete.

     „Die Heimkehrer bringen neue Ideen mit und setzen sie dann hier um“, sagt sie. „Das wirtschaftliche Überleben ist für Selbständige im Mittleren Westen viel leichter, auch weil es weniger Konkurrenz gibt.“ Sie selbst schreibt nicht nur Bücher und verkauft nebenbei Kuchen an Touristen. Sie zeigt auch in Kursen, wie man den perfekten Pie backt – sogar in Südafrika, Japan, London und der Schweiz.

     Heute ist Beth Howard eine Art moderne Version der Unternehmerin Martha Stewart, die in den 1990er Jahren mit eigenen Fernsehshows, Magazinen und Küchenprodukten zu Amerikas bekanntester Hausfrau aufstieg, aber eine bescheidene Version. Howards Küche ist so klein, dass ihr Backofen im Sommer auf der hinteren Veranda steht. Trotzdem hat ihre Geschichte Menschen im ganzen Land erreicht. Inzwischen kommen die Touristen nicht nur, um das American Gothic House zu sehen, sondern auch, um sich Beth Howards Buch von ihr signieren zu lassen. Die Leute nennen sie Miss American Pie, und so heißt auch ihr neues Buch, eine Rezepte- und Anekdotensammlung aus Eldon.

     Den Begriff hat der Sänger Don McLean geprägt, der in seinem Nummer-1-Hit von 1971 auch von der Sehnsucht nach den guten alten Zeiten erzählt. Dass man Beth Howard jetzt so nennt, liegt daran, dass sie auf moderne Art das alte Amerika verkörpert. Ihre Heimkehrer-Geschichte passt gut zu der Renaissance, die das uramerikanische Dessert Pie derzeit in den USA erlebt. In Städten wie Dallas, New York oder Los Angeles mache gerade ein Pie-Shop nach dem anderen auf, sagt Howard. „Pie ist ein Comfort-Food – Hühnersuppe für die Seele. Es steht für Großmutters Zeiten wie kein anderer Nachtisch.“

 

     So groß wie Martha Stewarts Imperium wird ihr Ein-Frau-Unternehmen wohl nicht werden. Aber vielleicht ist ja etwas dran an dem alten Werbeslogan Iowas: „Iowa: ein Ort, um zu wachsen“.