Emotion, Ausgabe November 2013

 

„Fast jeder hat einen Makel“ 

… zumindest aus Sicht der Mitmenschen. Das sagt der Journalist Andrew Solomon, der wegen seiner Homosexualität lange als schwarzes Schaf in seiner Familie galt. Jetzt hat er ein kluges Buch über die Chancen des Andersseins geschrieben 

 

Wenn er seine Kinder beobachtet, erkennt Andrew Solomon manchmal sich selbst. Sohn George, 4, hat nicht nur die Gesichtszüge und das braune Haar von ihm geerbt, sondern auch seine Begeisterung für Bücher und Sushi. Tochter Carolyn Blaine, 6, wolle beim Spielen immer „Bestimmerin“ sein. „Das hat sie ziemlich sicher auch von mir“, sagt der 50-jährige Journalist und lacht. „Es ist so rührend, wenn du dich in deinen Kindern wiederentdeckst.“ Dann wird er wieder ernst. Er sagt: „Aber meine Liebe für sie hängt nicht davon ab, wie ähnlich sie mir sind.“  

     Diesen Satz würden die meisten Mütter und Väter unterschreiben. Aber wären sie dabei ehrlich? Elternsein hat mehr mit Eitelkeit zu tun, als man zugeben will, sagt Solomon. „Wenn dein Kind ist wie du, ist das wie ein Kompliment. Es bestätigt, dass deine Art zu leben richtig ist. Ein Kind, das anders ist, fordert dich heraus. Aber es bereichert auch, weil es dir beibringt, einen Menschen anzunehmen, wie er ist.“ 

     Dass das ein lohnender und manchmal langwieriger Lernprozess ist, hat Andrew Solomon während der Recherchen für sein aktuelles Buch „Weit vom Stamm“ festgestellt. Dafür sprach er in zehn Jahre langer Arbeit mit mehr als 300 Familien, deren Kinder auf extreme Weise anders sind als ihre Eltern. Etwa weil sie autistisch sind, geistig oder körperlich behindert oder transsexuell. Er vergleicht und bewertet die Schwierigkeiten der Betroffenen nicht. Doch er stellt fest, dass es Gemeinsamkeiten gibt.  

     Der Schmerz vieler Eltern beispielsweise war derselbe, als die Erkenntnis sie traf: Ihr Nachwuchs würde nicht das Leben führen, das sie sich für ihn vorgestellt hatten. Das Gros dieser Mütter und Väter lernte aber, die Herausforderung anzunehmen und wuchs sogar daran. So wie Karen und Tom Robards, die Eltern eines Jungen mit Downsyndrom und Mitgründer des Cooke Center in New York, einem Bildungsinstitut für Menschen mit Behinderungen. Bis zu Davids Geburt seien beide „knallharte Broker an der Wall Street“ gewesen, schreibt Solomon. David änderte nicht nur ihren Alltag, sondern auch ihre Vorstellung von einem erfüllten Leben. Als Solomon die Robards fragte, ob sie sich ihren Sohn David ohne Downsyndrom wünschen würden, wenn sie es sich aussuchen könnten, sagten beide: Ja, aber nur, damit David ein leichteres Leben hätte. Sie selbst würden die Erfahrungen, die sie durch ihn gemacht hätten, um nichts auf der Welt missen wollen, so Karen Robards. Denn diese „haben uns zu dem gemacht, was wir sind, und das ist um so vieles besser, als es sonst gewesen wäre“.  

     Andere Eltern brauchten mehr Zeit, um ihre Kinder annehmen zu können. Akzeptanz und Liebe sind zwei Paar Schuhe, das hat Solomon durch die vielen Gespräche gelernt. „Die meisten Eltern lieben ihr Kind von Anfang an. Aber es mit all seinen Besonderheiten zu akzeptieren dauert bei vielen länger. Das bedeutet nicht, dass sie ihr Kind nicht lieben.“  

     Diese Einsicht half ihm, mit der eigenen Vergangenheit abzuschließen. Denn wie unglücklich es macht, wenn du nicht so bist, wie deine Familie es sich wünscht, hat er als Homosexueller selbst erfahren. Seiner Mutter war es peinlich, als er sich mit sieben Jahren in einem Geschäft den rosafarbenen Luftballon aussuchte statt des blauen. Schon lange vor seinem Coming-out hänselten Mitschüler ihn als „Schwuchtel“, einmal rief es der gesamte Schulbus, mehrere Haltestellen lang. Mit 24 verliebte er sich in seinen ersten richtigen Freund. Als er seinen Eltern sagte, er würde mit ihm zusammenziehen, reagierten sie traurig und erschüttert. Seine Mutter hatte von einem großen Hochzeitsfest und Enkeln geträumt. Sie sagte: „Kinder zu haben ist das größte Glück. Und jetzt wirst du diese Erfahrung niemals selbst machen.“ Dieser letzte Satz machte ihn wütend. Weil er glaubte, er sei wahr.  

     Auch er selbst konnte sich im Amerika der 80er-Jahre noch nicht vorstellen, dass er einmal eigene Kinder haben würde. Und eine kompliziert verbandelte, aber auch ziemlich glückliche Patchworkfamilie. Die Arbeit an seinem Buch half ihm dabei, eine wichtige Entscheidung zu treffen: selbst Vater zu werden. „Ich fragte mich: Was, wenn auch ich mein Kind nicht akzeptieren kann, weil es anders ist als ich? Doch nachdem ich all diese Eltern getroffen hatte, dachte ich: Wenn sie das können, dann kann auch ich das Kind lieben, das ich bekomme.“  

     Die Beispiele in seinem Buch sind Extremfälle. Viele von ihnen sind auf dramatischere Weise isoliert als jemand, der sich als schwarzes Schaf empfindet, weil er den Familienbetrieb nicht weiterführen will, weil er als Arztsohn das Medizinstudium geschmissen hat oder anders als die Geschwister Single geblieben ist. Doch manchmal braucht es Extreme, um der Wahrheit nahezukommen. Solomons Fallgeschichten, auch seine eigene, funktionieren wie ein Vergrößerungsglas. Durch all diese Familien hat er eine Erkenntnis gewonnen, die tröstlich für viele andere ist: Auf unterschiedlichste Art weichen die meisten Menschen in der Gesellschaft von irgendeiner Norm ab. In Wahrheit hat fast jeder irgendeinen Makel. Die meisten von uns wären gern erfolgreicher, schöner oder wohlhabender, und die meisten Menschen erleben Phasen mit niedrigem Selbstwertgefühl, schreibt Solomon. „Uns alle verbindet das Anderssein. Die individuelle Erfahrung kann die Betroffenen isolieren, doch zusammen bilden sie eine Gesamtheit von Millionen, die allesamt Kämpfe auszustehen haben.“ Das zeige schon ein Blick ins Internet, wo heute jedes Problem eine Community habe.

     Trotz der vielen Beispiele ist „Weit vom Stamm“ keine Sammlung krasser Einzelfälle, sondern eine kluge Studie über das Anderssein. Sie macht all jenen Mut, die sich auf ihre Weise als Außenseiter empfinden. „Hört auf, euch anzupassen“, sagt Solomon, „steht zu eurer Persönlichkeit.“ Seine eigene Geschichte zeige, dass es helfe, jenen Menschen gegenüber großzügig zu sein, denen es schwerfällt, einen zu akzeptieren. Verschiedene Studien belegten, dass besonders Menschen aus der oberen Gesellschaftsschicht zu Perfektionismus neigen. Ihnen falle es oft schwerer, mit gefühlten Defekten anderer umzugehen.

     Andrew Solomons Eltern haben ihren Frieden mit seiner Homosexualität gemacht. Er ist sicher, dass seine Mutter an seinem Hochzeitsfest und seinen Kindern ihre Freude gehabt hätte. Sie starb drei Jahre nach seinem Coming-out. Unheilbar an Krebs erkrankt, nahm sie sich das Leben. Die Familie begleitete sie dabei. Kurz vor ihrem Tod sagte sie zu ihm: „Ich hoffe, du findest jemanden, der dich wahrhaft liebt.“ Er hat ihn gefunden. Im Sommer 2007 heiratete Solomon seinen langjährigen Partner John Habich. Über das glamouröse Fest berichtete selbst die „New York Times“. Die Fotos zeigen John in einem altmodischen schwarzen Anzug und Andrew in einer lachsfarbenen Seidentunika. Sie sehen glücklich aus.  

     Erst durch John habe er ein wirklich gesundes Selbstbewusstsein entwickelt, erzählt Solomon. „Die zwölfeinhalb Jahre, die wir ein Paar sind, machen jetzt ein Viertel meines Lebens aus.“ Es sei mit Abstand das beste Viertel.  

     Wenige Monate nach der Hochzeit wurde seine Tochter Carolyn Blaine geboren, er hatte seinen Samen seiner alleinstehenden Freundin Beverly Blaine gespendet, die sich wie er ein Kind wünschte. 2009 kam George zur Welt. Georges Mutter ist Johns lesbische Freundin Laura, mit der John zwei gemeinsame Kinder hat: Oliver und Lucy. Alle vier Kinder nennen Andrew Daddy und John Papa. 

     Andrew Solomon will Mut machen, doch er beschönigt in seinem Buch auch nichts. Nicht allen gefalle es, wenn man sein neues Selbstbewusstsein zeige. Auf Georges Geburtsanzeige schrieb Johns 

Cousine zurück: „Euer Lebensstil widerspricht unseren christlichen Werten. Wir wünschen keinen weiteren Kontakt.“ Doch es gibt viel, was das wieder aufwiegt. Neulich sagte sein vierjähriger Sohn kurz vor dem Einschlafen in die Dunkelheit hinein: „Ich liebe euch so. Ich find’s toll, dass ihr meine Daddys seid.“