Ordnung muss sein

Sie prägen die Kunst genauso wie unseren Alltag, beeinflussen die Wirkung eines Gemäldes oder einer Skulptur ebenso wie die Umsatzzahlen internationaler Unternehmen: Farben. Kein Wunder, dass sich Künstler und Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten über sie den Kopf zerbrechen

 

Als der Bildhauer Lutz Fritsch einmal sein Rheinorange begutachtete, eine leuchtend orange Skulptur, die seit 1992 im Duisburger Hafen steht, traute er seinen Augen kaum: »Wahnsinnige«, wie er sagt, »hatten von einem Schiff aus darauf geschossen und ihm Dellen in fast 20 Metern Höhe beigebracht.« Wenn jemand einer seiner Skulpturen, die auch andernorts in Deutschland stehen, mit Edding, Schraubenzieher oder eben Schusswaffen zu Leibe gerückt ist, ruft meist kurz darauf jemand vom örtlichen Kulturamt bei Fritsch an. Der schaut dann auf einen Farbfächer und nennt die Nummer der entsprechenden Farbe, die dann Fachleute vor Ort besorgen und auftragen.

Dass Fritsch nur einen Code durchgeben muss, erspart ihm nicht nur den Weg zum Kunstwerk, sondern verhindert auch, dass es im falschen Farbton restauriert wird. Denn Farbe ist eine zutiefst subjektive Angelegenheit. »Wenn jemand >Rot< sagt und 50 Menschen zuhören, kann man davon ausgehen, dass in ihren Köpfen 50 Rottöne entstehen. Und diese 50 Rottöne werden alle völlig unterschiedlich sein«, schrieb der BAUHAUS-Künstler Josef Albers. Fritsch arbeitet oft mit Lacken, die auch in der Autoindustrie verwendet werden. Rheinorange etwa trägt die weithin sichtbare Farbe »Reinorange«, Nummer 2004 auf dem Farbfächer des RAL-Instituts, aus dessen Spektrum sonst vor allem deutsche Unternehmen der Auto- und der Baubranche wählen, wenn sie einem Produkt eine Farbe geben.

So einen Fächer hatte wohl jeder schon einmal in der Hand - und sei es bei der Suche nach der perfekten Wandfarbe. Standards wie der des RAL-Instituts machen es heute global agierenden Unternehmen mithilfe eines nummerierten Farbkatalogs möglich, dass Produkte und Firmenlogos weltweit im exakt gleichen Ton gefertigt werden können, vom »Starbucksgrün« bis zur pinkvioletten »Telemagenta« der Deutschen Telekom (RAL 4010 ). Ob Wohnzimmerwand, Auto oder Skulptur - die meisten Menschen wünschen sich bei der Wahl der Farbe vor allem eines: Verlässlichkeit.

Aber schon Jahrhunderte vorher hatten sich Maler und Gelehrte darangemacht, die Farben, in der wir die Welt sehen, zu erforschen, zu definieren und zu ordnen. Künstler wie Leonardo da Vinci machten sich Gedanken über ihre Beschaffenheit, Bedeutung und Reihenfolge. Physiker wie Isaac Newton, Chemiker wie Eugene Chevreul, Geologen wie Abraham Gottlob Werner und der Generalist Johann Wolfgang von Goethe erstellten ihre eigenen Systeme oder Theorien.

Woher kommt dieser Wunsch nach Ordnung? In den frühesten Überlegungen zur Farbtheorie ging es schlicht darum, die Welt zu verstehen. Warum erscheint uns nachts alles grau und schwarz? Wie entsteht ein Regenbogen? Bereits Aristoteles {384 bis 322 v. Chr.) beobachtete in der Antike das sich verändernde Tageslicht und legte eine aus sieben Farben bestehende Reihe fest, geordnet von Weiß über Gelb, Rot, Violett, Grün, BIau und Schwarz. Den Durchbruch für das physikalische Verständnis darüber, was Farben sind und warum wir sie sehen, brachte 1704 Isaac Newton mit seinem Werk Opticks: Or, a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light. Newton ordnete die für uns Menschen sichtbaren Farben des Lichts, die jeweils einer bestimmten elektromagnetischen Wellenlänge entsprechen, in einem Farbkreis von Rot über Orange, Gelb, Grün, Cyanblau, Ultramarinblau bis hin zu Violettblau, in dessen Zentrum durch das Zusammenfügen all dieser Spektralfarben Weiß entsteht. Durch seine Experimente hatte er nicht nur erkannt, dass diese Farben im Spektrum des Sonnenlichts enthalten sind und man sie durch Brechung mit einem Prisma sichtbar machen kann. Er zeigte durch eine zweite Linse, dass man diese bunten Einzelbestandteile auch wieder zu einem weißen Lichtstrahl zusammenfügen kann. Der dänisch-isländische Künstler Ólafur Elíasson, der selbst an einer neuen Theorie der Farben forscht, wendet dieses Prinzip immer wieder in seinen Installationen an, zum Beispiel in Your atmospheric colour atlas (2009), für das künstlicher Nebel in einem Ausstellungsraum mithilfe von Leuchtstofflampen in den Farben Rot, Grün und Blau erschien. An den Übergängen in den Farben Cyan, Magenta und Gelb und an den Stellen, an denen alle Farben zusammentrafen, weiß. Und auch viele andere Werke Elíassons, in deren Zentrum das sich verändernde Tageslicht und die Spektralfarben stehen, beruhen auf den Eigenschaften des Lichts, die Newton erkannte. Etwa Your rainbow panorama {2006/11) auf dem AROS KUNSTMUSEUM im dänischen Aarhus - ein kreisförmiger, begehbarer Glastunnel von 52 Metern Durchmesser, durch den Besucher die Stadt, den Himmel und das Meer in den Farben des Regenbogens sehen.

Nach der bahnbrechenden Erkenntnis Newtons machten sich immer mehr Menschen unterschiedlichster Disziplinen daran, sich mit Farben zu beschäftigen und Systeme zu entwerfen. Zu ihnen zählte der sächsische Geologe Abraham Gottlob Werner. Er definierte im Jahr 1774 79 Farbtöne, die er an Mineralien beobachtet hatte. Dieser Farbkatalog war so naturgetreu, dass Werner dafür auch außerhalb Deutschlands Anerkennung bekam. Der schottische Pflanzenmaler Patrick Syme fügte 40 Jahre später 31 Töne aus der Botanik, dem Tierreich und der Anatomie hinzu und veröffentlichte sie unter dem Titel Werners Nomenklatur der Farben. Das Orange der Ringelblume kommt darin ebenso vor wie das Gelb von Gallensteinen, das Blau der Flügel eines Blauhähers und das Violett des Amethysten. Auch Charles Darwin nutzte diesen Katalog während seiner Schiffsexpedition nach Südamerika und Australien mit der HMS Beagle. Darwin beschrieb die Tiere und Pflanzen, die er entdeckte, mit den Farbbezeichnungen, die Werner und Syme vorgaben. Damit prägte er nicht nur die Vorstellung der Daheimgebliebenen, wie die Natur in fernen Ländern aussah, sondern begeisterte sie auch durch eine präzise wie poetische Sprache. Zu fast derselben Zeit erschien das Werk des britischen Insektenforschers Moses Harris. The Natural System Of Colours (um 1769/76) ist der Versuch, einen Standard für die Kolorierung und Beschreibung von Insekten und anderen Lebewesen zu schaffen. Dabei unterschied Harris zwischen drei Primär- und drei Mischfarben sowie deren Kombinationen und setzte sie mithilfe eines Farbkreises zueinander ins Verhältnis.

Es gab aber auch Gelehrte, die sich gegen die naturwissenschaftliche Theorie der Farben, die Newton angestoßen hatte, vehement wehrten. Johann Wolfgang von Goethe bezeichnete sie als »Irrtumsgespenst« und warf dem Physiker vor, er habe seine Versuche im Labor vorgenommen, unter künstlichen Bedingungen. Farbe entstehe nicht durch die Brechung des Lichts, sondern ergebe sich aus dem Verhältnis von Hell und Dunkel, meinte Goethe. Es gebe nur zwei reine Farben, Gelb und Blau, alle anderen seien Abstufungen dieser Farben. »Halblicht« und »Halbschatten«, nannte er sie. Dazu tauschte er sich eng mit Philipp Otto Runge aus, der eine eigene, religiös-mystisch motivierte Farbordnung in Form einer Kugel geschaffen hatte, in der Weiß für das Gute, das Licht, Schwarz für das Böse und die Finsternis und die drei Grundfarben für die Dreieinigkeit Gottes stehen und an der sich etwa Caspar David Friedrich und Karl Friedrich Schinkel orientierten. Dass Goethe irrte, wurde schon zu seiner Zeit von zahlreichen Wissenschaftlern belegt. Der Literat hielt aber bis zum Ende seines Lebens daran fest, wohl auch, weil sie sich nicht mit seinem ganzheitlichen Weltbild in Einklang bringen ließ, vielleicht auch, weil die naturwissenschaftliche Farbtheorie, wie der Physiker Christoph Berger meint, stellvertretend für die Vertreibung alles Mystischen aus der Natur stehe. In manchem aber lag Goethe richtig, etwa darin, dass Farben die Gefühle der Menschen beeinflussen können. Er selbst ließ in seinem Weimarer Haus das Gesellschaftszimmer in heiterem Gelb erstrahlen, das Studierzimmer in Grün und das Zimmer, in dem er Gäste empfing, in kühlem Blau.

Weil Farbe eine hoch emotionale Angelegenheit ist, schien mancher regelrecht Angst vor ihr zu haben. Dem französischen Kunstkritiker Charles Blanc ging es um nicht weniger als um die Rettung der Zivilisation. In seinem Traktat Grammaire des arts du dessin (Die Grammatik der Zeichenkünste) von 1867 stellte er, wie schon andere vor ihm, das Prinzip Farbe als das weibliche, irrationale und minderwertige Pendant zum männlichen Prinzip der Zeichnung dar: »Die Vereinigung von Zeichnung und Farbe ist notwendig, um Gemälde zu erschaffen, so wie die Vereinigung von Mann und Frau notwendig ist, um die Menschheit zu erschaffen. Aber die Zeichnung muss ihre Vorherrschaft über die Farbe behalten. Ansonsten stürmt die Malerei ihrem Ruin entgegen: Die Farbe wird zu ihrem Fall führen, so wie die Menschheit durch Eva fiel.« Noch ein halbes Jahrhundert später schrieben die Architekten Le Corbusier und Amédée Ozenfant in ihrem Manifest Purisme: »Bei einem wahren und dauerhaften plastischen Werk kommt zuallererst die Form, und alles andere sollte ihr untergeordnet sein ... [Cezanne] akzeptierte ohne genauere Prüfung das attraktive Angebot des Farbenhändlers, in einer Zeit, die vom Wahn der Farbchemie gekennzeichnet war, eine Wissenschaft ohne Auswirkungen auf die große Malerei. Wir wollen den Kleiderfärbern den sinnlichen Jubel der Farbtube überlassen.« »Chromophobie« nennt der Künstler David Batchelor in seinem gleichnamigen Essay diese Denkweise. Eine ganz andere, bildliche Formulierung für die phobische und zugleich anziehende, vereinnahmende Versenkungskraft von Farbe fand wiederum der abstrakte Expressionist Barnett Newman. Seine großformatigen Anordnungen monochromer Primärfarbfelder verweisen teilweise bereits im Titel darauf: wie etwa seine viel rezipierten Varianten von Who's Afraid of Red, Yellow and Blue aus den Sechzigerjahren.

Tatsächlich waren der Aufschwung der chemischen Industrie im 19. Jahrhundert und die Entstehung von Farbfabriken eine Zäsur. Nicht nur für Maler, die sie nun viel günstiger kaufen konnten - sogar abgefüllt in Tuben, was die Freiluft-Malerei deutlich erleichterte und dem Impressionismus seinen Weg bereitete. Es wandelte sich auch die Motivation derjenigen, die Farbsysteme erstellten. Jetzt ging es weniger um eine Weltanschauung als um Standardisierung und Übersichtlichkeit in einer Zeit, in der immer mehr Beteiligte auf dem Markt der Farben mitmischten. In der Namensgebung herrsche »die vollkommenste Willkür, und nicht nur die Fabrikanten, auch die Händler und Zwischenhändler glauben, berechtigt zu sein, irgendeiner Farbe, die sie herstellen ( ... ), eine beliebige Benennung beizulegen, sei es auch nur deshalb, um damit ein vielleicht schon längst unter anderem Namen bekanntes Farbprodukt bei der Kundschaft als Neuheit anpreisen und leichter verkaufen zu können.« So klagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Autoren des Handbuchs der Farbenfabrikation.

Deshalb wurde 1925 in Deutschland von Wirtschaftsverbänden und der Regierung der »Reichsausschuss für Lieferbedingungen« (RAL) gegründet, der für einheitliche Kriterien verschiedenster Produkte sorgen sollte, darunter auch Farben. Zwei Jahre später gab es erstmals einen Katalog, der 40 Nuancen definierte und jeder eine Nummer zuwies. Noch heute orientiert sich vor allem die deutsche Industrie an dieser Norm. Aber auch viele (einst) staatliche Institutionen und andere Organisationen definieren ihre Farben nach dem RAL-System: von der einstigen Deutschen Post mit ihren Fahrzeugen im Ton »Ginstergelb« über das Technische Hilfswerk in Ultramarinblau bis zur Bundeswehr, die zusammen mit RAL acht Tarnfarben festlegte . Neben dem erstmals 1975 erschienenen RAL-Fächer, der heute verbindliche Vorgaben für 2540 Töne umfasst, gibt es auch solche von anderen Unternehmen, die auf andere Branchen spezialisiert sind. Der seit 1968 herausgegebene Fächer von HKS mit seinen 88 Basis- und 3520 Volltonfarben wird vor allem in der deutschen Druckindustrie verwendet. Viele Designer und Architekten im skandinavischen Raum arbeiten mit Katalogen des Natural Color System (NCS), das der schwedische Physiker Tryggve Johansson in den Dreißigerjahren nach den Erkenntnissen des deutschen Hirnforschers Ewald Hering entwickelte.

Den wichtigsten globalen Standard, besonders für Mode und Industriedesign, setzt aber das US-Unternehmen Pantone. 1963 erschien erstmals das Pantone Matching System mit 500 Farben. Dessen Gründer, der Chemiker Lawrence Herbert, löste das Kommunikationsproblem, das Josef Albers im selben Jahr formulierte: Wie kann ein Unternehmen sicherstellen, dass der exakt selbe Farbton etwa seines Firmenlogos in sämtlichen Filialen und auf verschiedenen Materialien erscheint? Statt Farbe verkaufte er die Pigment-Rezeptur der von Pantone definierten Farbtöne, die er mit Nummern versah und in Katalogen und auf Fächern vorstellte - eine Bibliothek der Farben. Heute definiert Pantone auf nach Branchen differenzierten Fächern mehr als 10 000 Farbstandards, hat 3,3 Millionen Follower auf Instagram und verkündet jedes Jahr eine »Farbe des Jahres«, die sich dann oft in den Kollektionen namhafter Designer wiederfindet. Klar, dass es die Farbe des Jahres 2022- »Very Peri«, ein Lavendelton, - längst als iPhone-Hülle und Turnschuh gibt. Mehr als zehn Millionen Unternehmen arbeiten nach Angaben des Unternehmens mit dem Pantone-Standard, vom französischen Modehersteller Lacoste über den südkoreanischen Autobauer Kia bis zum New Yorker Juwelier Tiffany & Co. und Apple. Dass Google sich 2009 bei der Farbgebung für Werbelinks nach ausführlicher Testung für ein knalliges Blau entschieden hat, soll den Umsatz des Unternehmens um 200 Millionen Dollar erhöht haben.

 

Einem Designer lag die Farbe seiner Werke so sehr am Herzen, dass er zusammen mit einem Schweizer Möbelunternehmen einen eigenen Standard definierte: Verner Panton, ein Däne, der ausgerechnet beinahe so hieß wie der größte Player im Farb-Matching-Business - mit dem er übrigens ebenfalls arbeitete. Der einstige Mitarbeiter Arne Jacobsens wurde in den Sechzigerjahren mit seinen knallbunten Möbeln berühmt. Farbe, schrieb er, sei so viel mehr als nur hübsches Beiwerk und durch ihre Wirkung auf »unsere Stimmungen, unseren Humor, unsere Arbeitsfähigkeit« der Schlüssel zu einem glücklichen Leben. Folgt man dieser Philosophie, waren die Entscheidungen, die wir mithilfe von Farbfächern im Baumarkt fällen, wohl noch nie so bedeutsam wie in den vergangenen zwei Pandemie-Jahren, in denen wir so viel Zeit zu Hause verbracht haben. Und niemals, rief Panton in seinem Essay Notes on Colour (1991) seine Leser auf, solle man sich bei der Wahl einer Farbe davon einschränken lassen, was andere denken oder für »guten Stil« halten. »Man sitzt bequemer«, so Panton, »auf einer Farbe, die man mag.«