mare, Ausgabe Juni/Juli 2014

 

Die Frau, die Hooge zur Welt brachte

Außer dem Pastor ist auf der Hallig Hooge kaum jemand den Menschen so nahe gekommen wie sie. Mehr als 300 Babys hat Anni Both dort entbunden – und genauso viele Tote aufgebahrt

 

Anni Both drückt die „Play“-Taste ihres blauen Kassettenrekorders. Er steht auf der Kommode unter dem Bücherregal in ihrer Wohnung in Tönning. Die Bücher sind kaum zu sehen, sie hat Familienfotos davor aufgereiht: Hannes, ihr verstorbener Mann, die Tochter Anke, Herbert, der Sohn, die Enkel und Urenkel. Es knistert, die Kassette ist mehr als 30 Jahre alt. Erst hört man das Akkordeon, dann beginnt Hannes das alte Volkslied für sie zu singen. „Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten. / Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. / So hört’ ich oft schon von alten Leuten. / Und seht, von denen weiß ich’s her“, und Anni Both mit ihrem schönen Sopran singt mit. 

     Wenn man sie fragt, welche Zeit in ihrem Leben die glücklichste war, dann sagt die 83-Jährige: „Als Hannes und ich gerade jung verheiratet waren. Wir waren so unbeschwert. Ich würde aber lieber ,die zufriedenste Zeit‘ sagen.“ Übertreibungen liegen ihr nicht, Anni Both ist Hoogerin, geboren und aufgewachsen auf Deutschlands zweitgrößter Hallig. Hooger machten nie viel Aufhebens um etwas, sei es Glück oder Leid. „Halligleute sind keine Jaulsusen“, sagt Anni Both. Die Frauen dort würden nicht einmal schreien, wenn sie Kinder gebären. Sie weiß das, weil sie 27 Jahre lang auf Hooge als Hebamme gearbeitet hat, von 1957 bis 1984. Und da es auf der Hallig weder Arzt noch Gemeindeschwester, keinen Bestatter und keinen Apotheker gab, übernahm sie einen Großteil dieser Aufgaben gleich mit. Außer dem Pastor ist auf Hallig Hooge wohl kaum jemand den Menschen so nahe gekommen wie sie. Dabei wollte sie die Ausbildung zur Hebamme zuerst gar nicht antreten.

     Wäre sie ein paar Jahrzehnte später geboren, hätte Anni Both vielleicht das Internat in Husum besucht, Abitur gemacht und studiert. „Ich wollte immer nur lernen“, sagt sie. „Dass ich nur zur Volksschule gehen konnte, hängt mir bis heute nach.“ Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, ist sie elf Jahre alt, das zweitjüngste von fünf Geschwistern. Eigentlich habe die Mutter nach dem dritten Kind nicht mehr schwanger werden wollen, und dann kam sie – auch noch ein Mädchen.

     Bei Kriegsende ist die Hallig fast eine reine Fraueninsel. Die 17-jährige Anni muss der Mutter helfen, das Vieh zu versorgen. Einen Beruf lernt keine der jungen Halligfrauen in ihrem Alter. Anke, Edith, Helga, Bruni, Elke, Hilla – sie alle halten, so gut es geht, nach dem Krieg das Leben auf der Hallig am Laufen. Mehr als die Hälfte der Männer ist gefallen, die anderen kehren erst nach Jahren aus den Gefangenenlagern zurück, auch Hannes, ihr späterer Mann. Hannes kam von Pellworm. Als sie ihn zum ersten Mal traf, im Sommer 1950, da habe sie ihm die Pest an den Hals gewünscht, sagt Anni Both und lacht, dass ihre hellblauen Augen glänzen. Als junge Frau verkauft sie Andenken am Hafen, wenn ein Ausflugsdampfer anlegt, kleine Möwenbroschen aus Bakelit, silberne Friesenketten. An einem dieser Sommertage machen drei junge Männer auf dem Weg zurück zum Schiff vor ihrer Bude Halt. „Die haben auf jedes einzelne Stück gezeigt und gefragt, was das kostet. Und sich dabei die ganze Zeit angegrinst. Natürlich haben sie nichts gekauft.“ Es sind Pellwormer, sie erkennt sie an ihrem Platt. Fallt doch in den nächsten Graben!, denkt sie wütend.

     Ein halbes Jahr später soll im Gasthof Fasching gefeiert werden, das erste Mal seit dem Krieg. „Da kommen drei Brüder von Pellworm, die Musik machen“, erzählen sich die Leute. Hannes, den Schlagzeuger, erkennt Anni sofort. Gut sieht er aus, findet sie, jetzt wo sie ihn genauer anschaut: groß, die dunklen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt. Einmal spielt die Kapelle ohne ihn weiter, da fordert er sie zum Tanzen auf. Er bringt sie nach Hause. Als er sie fragt, ob er ihr schreiben dürfe, sagt sie ja.

     An einem stürmischen Novembertag 1951, die halbe Hallig steht unter Wasser, heiraten sie. Sie wohnen auf der Backenswarft, in einem roten Backsteinhaus mit Reetdach und Butzenfenstern. Die weißblauen Kacheln im Flur erzählen Geschichten aus der Bibel. Hannes bekommt die Poststelle auf Hooge. Er ist oft krank. Seit dem Krieg sitzen 39 Granatsplitter in seinem Rücken fest. Immer, wenn sich einer löst, kann er Arme und Beine kaum bewegen. Er muss operiert werden, beinahe jedes Jahr. Ihr erstes Kind, Herbert, kommt im Sommer 1952 zur Welt. Bei den Boths wohnt gerade eine Hebamme aus Berlin, ein Feriengast. Sie kochen die Haushaltsschere und ein Wäscheband aus dem Nähkasten ab, um die Nabelschnur durchzutrennen. Die Nachgeburt kommt in die gute Obstschale. 1956 bringt sie ihre Tochter Anke so gut wie allein zur Welt. Die zuständige Hebamme von Pellworm erreicht die Warft, als das Baby schon fast da ist.

     Hooge erlebt in dieser Zeit einen Babyboom. 1956 stehen acht, neun Geburten an, und die Insel hat weder eine Hebamme noch eine Krankenschwester. Die sechs Kommunalpolitiker beschließen, eine der jungen Frauen nach Kiel zur Hebammenschule zu schicken. Die 70 Mark Schulgeld im Monat zahlt die Gemeinde. Warum Bürgermeister Cornelius Adolphsen ausgerechnet sie gefragt hat, darüber hat Anni Both nie nachgedacht. Vielleicht, weil sie immer eine Einserschülerin war. Vielleicht, weil diese schmale Frau, keine 1,60 Meter groß, zupacken kann. Arbeiten, das habe sie schon als Kind gelernt, dafür habe die Mutter mit dem Rohrstock gesorgt, sagt Anni Both. Vielleicht fällt die Wahl auf sie, weil alle wissen, dass die Familie keinen Ernährer mehr hat, falls Hannes an seinen Kriegsverletzungen einmal stirbt.  

     Keiner ahnt, dass die Hooger einmal vom Tourismus werden leben können. Hooge ist nicht Sylt, sondern ein Möwenschiet im Meer nordwestlich von Pellworm. Knappe sechs Quadratkilometer, die bei Sturm mehrmals im Jahr von der Nordsee überflutet werden. Elektrizität bekommt die Hallig 1959, fließend Wasser erst 1969. „Bis dahin haben wir immer Regenwasser in Zisternen aufgefangen und im Winter Schnee geschmolzen“, sagt Anni Both. „Der Tee war manchmal schon braun, bevor man den Beutel ins Wasser getan hatte.“ Erst nach der Sturmflut 1962 werden die Straßen asphaltiert, die zerstörten Häuser wieder aufgebaut und modernisiert, und die Fähre legt im Sommer täglich an und ab. Mit dem Komfort kommen immer mehr Badegäste. „Hätte ich 1956 gewusst, dass Hooge einmal so wird wie heute, hätte ich nie meine Familie verlassen, um zur Hebammenschule zu gehen. Wir hätten Zimmer vermietet und wären irgendwie über die Runden gekommen“, sagt Anni Both.

     Als Cornelius Adolphsen die junge Frau im Frühjahr 1956 fragt, ob sie Hallighebamme werden will, ist ihre Tochter drei Monate alt. Alles in ihr sträubt sich, nach Kiel zu gehen. Aber da ist auch die Angst um das wirtschaftliche Überleben. Nachdem sie im April die Aufnahmeprüfung besteht, kann sie im Mai in den laufenden Kurs einsteigen. Sie muss das Baby abstillen. Bis zu ihrer Rückkehr wird es vom Lehrerehepaar versorgt, das keine eigenen Kinder bekommen kann. Der Sohn wird in den kommenden anderthalb Jahren von ihren Eltern und Bekannten aufgezogen. Zweimal leistet sie sich in dieser Zeit eine Fahrkarte nach Hause.

     „Das ist ein hartes Leben. Da muss man selbst hart werden, gegen sich“, sagt Anni Both, wenn sie an die Zeit zurückdenkt, als es sie vor Heimweh nach ihren Kindern und dem Mann fast zerreißt. Für die anderen Hebammenschülerinnen – viele haben Abitur – ist sie „die Doofe von der Hallig“. Das Wort „Kreißsaal“ hört Anni Both hier zum ersten Mal, auf der Hallig bekommen fast alle Frauen ihre Kinder zu Hause. Das muss wohl ein runder Raum sein, denkt sie. Wenn Mitschülerinnen an den Wochenenden ausgehen oder nach Hause fahren, bleibt sie auf ihrem Zimmer. Sie schreibt ihrem Mann, wie kreuzunglücklich sie ist, in Briefen, die sie nie abschickt. Sie nimmt 16 Kilo ab. Abends pumpt sie ihre Milch ab und schüttet sie in den Ausguss. Nur Oberschwester Ella weiß, dass sie verheiratet ist und zwei Kinder hat. Doch das Lernen macht ihr Freude. Die „Doofe von der Hallig“ besteht als Einzige mit einer Eins.

     Sie habe den schönsten Beruf der Welt gehabt, sagt Anni Both heute und lächelt. „Wenn man plötzlich dieses kleine Bündel Mensch in den Händen hält, das ist jedes Mal unbeschreiblich.“ In den 1960er- und 1970er-Jahren entbinden immer mehr Frauen in Kliniken: 1960 sind es laut Hebammenverband 66,3 Prozent, 15 Jahre später fast 99 Prozent. Auf Hallig Hooge bekommen da noch so gut wie alle Frauen ihre Kinder zu Hause. Anni Both fährt mit dem Fahrrad hin, manchmal bringt Hannes sie auf dem Postmoped. Manchmal vertritt sie die Kollegin auf Pellworm, dann nimmt sie das Postschiff bei Flut, bei Ebbe fährt sie mit einem Ruderboot durch die Priele und läuft in Gummistiefeln durchs Watt. Sie geht bei Gewitter los, auch bei Sturmfluten – die Babys warten nicht auf besseres Wetter.

     Sie hilft Zwillingen auf die Welt – die Frauen wissen oft nicht einmal, dass sie zwei Babys bekommen – und Kindern in Steißlage. Eines wird auf dem Dampfer nach Husum geboren, ein anderes in der Sturmflutnacht zum 17. Februar 1962. Die Hooger sind auf Naturgewalten besser vorbereitet als die vielen Hamburger, für die diese Nacht zur tödlichen Katastrophe wird. „Wir sind mit dem Meer aufgewachsen. Es ist Teil unseres Lebens“, sagt Anni Both. Jeder Haushalt habe ein Barometer und ein Fernglas gehabt, alle hätten täglich den Seewetterbericht gehört. Noch heute, sagt sie, spüre sie, wenn das Wetter umschlägt und „Land unter“ droht. Dann ruft sie ihre frühere Nachbarin Anke an, die noch auf der Hallig wohnt, und fragt nach. Bislang habe ihr Gefühl sie nie getäuscht.

     Halligleute haben keine Angst vor dem Wasser, aber Respekt. Jeden Herbst und Winter sehen sie, wie die See bei Sturm wütend schäumt und der Wind sie bis zu ihren Warften hochpeitscht. Am 15. Februar 1962 ruft ein Hooger von Helgoland auf der Hallig an, er arbeitet da als Maurer. Das Wasser stünde so hoch, wie er es noch nie gesehen habe, da komme eine gewaltige Sturmflut auf sie zu. Die Hooger gehen von Haus zu Haus, jeder warnt seinen Nachbarn. Die hochschwangere Anke von Holdt ist überfällig, sie zieht zu den Boths auf die Backenswarft. Als die Wehen einsetzen, pumpen Hannes und Annis Bruder das Wasser aus dem Keller. Durch den Sturm hören sie das Vieh brüllen vor Durst – es gibt kein Süßwasser mehr. „Ich konnte nicht einmal das Baby waschen“, sagt Anni Both. Am nächsten Tag stapeln sich Zäune, Häuserteile und Möbel meterhoch vor Boths Schlafzimmerfenster. Einige Kühe und Schafe sind ertrunken, aber keine Menschen.

     Mehr als 300 Babys hat Anni Both auf Hooge entbunden. Und etwa genauso viele Tote aufgebahrt. Weil sie die Einzige auf der Hallig ist, die etwas von Medizin versteht, scheint es allen selbstverständlich, dass sie nun auch Bestatterin ist. Sie darf Totenscheine ausstellen, wenn der Arzt von Amrum oder Pellworm nicht gleich kommen kann. Der erste Tote ist ihr Nachbar. „Da klopfte plötzlich jemand nachts an unser Schlafzimmerfenster und rief: Anni, komm schnell, Peter Tiemann ist umgefallen!“

     Die alte Frau, die bislang immer die Toten gewaschen, angezogen und den Sarg bestellt hat, sagt zu ihr: „Komm, ich zeige dir, wie das geht. Ab jetzt bist du dran.“ Seitdem hat Anni Both keine Angst mehr vor dem Tod. „Sterben gehört zum Leben“, sagt sie. „Und fast alle Toten, die ich gesehen habe, hatten so einen erlösten, fast heiteren Ausdruck im Gesicht. Auch mein Mann, als er vor 15 Jahren an Krebs gestorben ist. Es war, als wollte er mir sagen: Jetzt ist es gut.“

     Die Leute kommen auch zu ihr, wenn jemand Erste Hilfe braucht. Badegäste, die in eine Scherbe getreten oder vom Fahrrad gefallen sind. Sie gibt Spritzen bei Hexenschuss, versorgt unheilbar Krebskranke bis zum Tod mit Morphium. Alle vier Stunden muss es gespritzt werden, Tag und Nacht, manchmal geht das über Monate.

     Vielleicht wären andere schon viel früher zusammengeklappt. Den Begriff „Burn-out“ kennt damals in Deutschland kaum jemand. Anfang der 1980er kommt es Anni Both vor, als würde das Leben wie ein riesiger Berg vor ihr stehen, und sie käme nicht mehr hinauf. Sie vertraut sich ihrem Arzt in Husum an. Er weiß: Wenn die sagt, dass es ihr schlecht geht, dann ist es ernst. Er überweist sie sofort an die Uniklinik in Kiel, dort bleibt sie drei Monate lang, macht Gesprächstherapien, arbeitet ihre Kindheit auf. Die Mutter und die Schwester, die Nachbarn fragen: „Was genau hast du denn jetzt?“ „Ein gebrochenes Bein oder der Blinddarm, das hätten sie ja noch verstanden“, sagt Anni Both. Dass auch die Seele krank werden kann, glaubt außer ihrem Mann und den Kindern niemand. Die wenigsten können sich vorstellen, dass sie jedes Mal Herzklopfen und Beklemmungen bekommt, wenn sie auf die Hallig zurückkehrt.

     Anni Both erkennt, dass sie sich zu viel zugemutet hat. Und dass sie hier nicht mehr bleiben kann. 1984 suchen sich die Boths eine Wohnung auf dem Festland, sie muss ohnehin immer wieder zur Therapie nach Kiel fahren. Der Sohn wohnt in Tönning, hier ziehen sie hin, sie wollen auch ihre Enkelkinder aufwachsen sehen. Mit 56 geht Anni Both in Vorruhestand. So mancher habe es ihnen übel genommen, dass sie die Hallig verlassen haben. Hooger werden auf der Hallig geboren, und sie sterben auf der Hallig, das ist damals die ungeschriebene Regel. Die Boths sind die ersten der Alteingesessenen, die sie brechen. Als sie bei einem Besuch einen ehemaligen Schulkameraden trifft, habe der nur „Moin“ gesagt und sei weitergegangen. Sie gehören jetzt nicht mehr dazu.

     Zwölf Jahre später stirbt Hannes an Krebs, mit 72. „Das hatten wir uns eigentlich anders vorgestellt“, sagt Anni Both. Sie hatten sich auf die Zeit hier gefreut. „So ist es doch mit dem Leben: Man denkt immer, dass da noch irgendetwas kommt. Als würde man auf etwas warten“, sagt Anni Both. „Erst freut man sich aufs Heiraten und die Zweisamkeit. Dann darauf, eine Familie zu sein. Und so geht das immer weiter. Wir hören nie auf, nach etwas zu suchen. Auch wenn wir selbst nicht immer wissen, wonach.“

     Sie ist glücklich auf dem Festland, so nah am Watt. Die Luft riecht hier nach Salz. Jeden Morgen kommt der Sohn vorbei. Sie kocht ihm seinen Espresso, er fragt, wie es ihr geht. Die Tochter, die als Zweijährige nichts von ihr habe wissen wollen, als sie aus Kiel zurückkam, sei heute ihre beste Freundin. Ab und an fahren sie zusammen zurück zur Hallig, Vogeleier suchen, wie sie es früher als Kind gemacht hat, als sie das braungebrannte, weizenblonde Mädchen war, dem immer die Schleifen aus den Zöpfen rutschten. „Wenn der Halligflieder blüht, ist es da wunderschön“, sagt Anni Both. Sie mag es, dass fast immer etwas Wind geht auf Hooge. Und schauen könne man hier bis ans Ende der Welt.