mare, Ausgabe Juni/Juli 2015

 

Ihrem Mann eine Brücke

Die Errichtung der New Yorker Brooklyn Bridge vor gut 130 Jahren war eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Schon zu Beginn starb ihr Erfinder, der deutsche Einwanderer John August Roebling. Als auch sein Nachfolger und Sohn schwer erkrankte, trieb dessen Frau das Projekt voran: Emily Warren Roebling

  

Der Wind bläst kräftig hier oben, rund 40 Meter über dem New Yorker East River. Er zerzaust das weiße Gefieder des Hahnes, den Emily Warren Roebling in einem Käfig auf ihrem Schoß hält, als sie zusammen mit einem Techniker über die Brooklyn Bridge fährt. Die Arbeiter rechts und links erledigen letzte Handgriffe. Sie ziehen ihre Hüte, einige applaudieren. Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Eröffnung. Wird der Trott des Pferdes die Fahrbahn gefährlich schwanken lassen? Die 39-Jährige ist die Erste, die die Brücke im Frühjahr 1883 in einer Kutsche überquert, um das zu testen.

     Emily Warren Roebling hat den Hahn nicht nur als Glücksbringer mitgenommen. Der Hahn ist ein Siegessymbol. Sieben Millionen Dollar hatte es laut Planung kosten sollen, die Brücke zwischen dem Südzipfel Manhattans und Brooklyn zu errichten. Die veranschlagte Bauzeit: drei Jahre. Am Ende wurden daraus 15,5 Millionen Dollar und 14 Jahre. Dass es nicht noch länger dauerte, ist Emily Warren Roebling zu verdanken. 

     Die Idee war so alt wie das Jahrhundert. Über die im Winter oft zugefrorene Meerenge soll eine Brücke führen, um Pendler von den Launen des Wetters unabhängig zu machen. 40 Millionen Menschen überqueren damals im Jahr den East River, den Kapitäne wegen seiner gefährlichen Strömungen und Unterwasserfelsen „Höllenloch“ nennen. Doch erst 1867, nach einem besonders harten Winter, bringt der Staat New York das Projekt per Gesetz auf den Weg. Die Leitung übernimmt Emily Warren Roeblings Schwiegervater: John August Roebling. Der deutsche Einwanderer aus Mühlhausen in Thüringen hat sich bereits mit einer zweistöckigen Hängebrücke über den Niagara einen Namen gemacht.

     Für die East-River-Brücke, wie sie damals heißen soll, hatte sich der als genial, aber auch hart und launisch geltende Roebling senior lange eingesetzt. Ein noch nie da gewesenes Bauwerk aus Granit und Stahl würde es werden: knapp zwei Kilometer lang, die neogotischen Pfeiler gut 84 Meter hoch – nur der Turm der Trinity Church an der Wall Street würde es um zwei Meter überragen. Irrsinn, sagen Kritiker. Das größte Bauwerk Nordamerikas in die Skyline von New York zu pflanzen würde den Rest der Stadt zwergenhaft erscheinen lassen. Kapitäne warnen vor Schiffsunfällen. Selbst einige Kollegen Roeblings empören sich über das „wilde Experiment“. Ein Tunnel oder ein Damm täten es auch.  

     Auf beiden Seiten des East River verfolgen die Menschen die Debatte. Besonders die New Yorker – Brooklyn ist damals noch eine eigene Stadt – sind vor Baubeginn skeptisch. „Fragen Sie nicht, wer damals gegen die Brücke war. Fragen Sie lieber, wer für sie war“, sagt Kristian Roebling, 50 Jahre alt und Urgroßenkel Emily Warren Roeblings, der die Geschichte seiner Vorfahren bei Führungen über die Brooklyn Bridge erzählt. Später befeuern steigende Kosten, Verzögerungen, Berichte über Korruption im Vorstand und tödliche Arbeitsunfälle die Diskussion. Der erste kostet John Roebling selbst das Leben. Im Juli 1869 gerät er bei Vermessungen mit dem Fuß zwischen den Anleger und eine Fähre. Roebling schickt den Arzt nach Hause, er will sich mithilfe einer Wassertherapie kurieren. 24 Tage später stirbt er an Tetanus.

     Sein Sohn Washington hat das Projekt bislang als Stellvertreter begleitet. Keiner kennt sich mit den Plänen des alten Roebling so gut aus wie er. „Da stand ich also mit 32, plötzlich verantwortlich für das gewaltigste Bauwerk seiner Zeit. Die Säule, die mir zuvor Halt gegeben hatte, war gefallen“, schreibt er später. „Anfangs dachte ich, ich würde versagen. Aber ich hatte einen starken Turm, der mir Halt gab: meine Frau, meine unendlich taktvolle, meine klügste Ratgeberin.“

     Von ihr hängt bald ab, ob er diese Brücke jemals fertig bauen wird. Denn drei Jahre nach John Roeblings Tod leidet der Chefingenieur durch seine Arbeit in den riesigen, mit Pressluft gefüllten Senkkästen an der Dekompressionskrankheit, die damals kaum erforscht ist. Viele der Männer, die in bis zu 30 Meter Tiefe Sand und Gestein ausheben, haben unerklärliche Muskel- und Gelenkschmerzen, Bauchkrämpfe und Lähmungen. Beim Aufstieg bleiben sie nicht lang genug in den Luftschleusen, damit ihr Körper sich an die wechselnden Druckverhältnisse anpassen kann.

     An einem Nachmittag im Frühjahr 1872 wird Washington Roebling bewusstlos herausgetragen. „Die ganze Nacht dachten wir, er werde sterben“, schreibt Emily Warren Roebling später. Er überlebt, doch er kann sich vor Schmerzen kaum bewegen. Seine Sehkraft lässt stark nach. Vor allem aber bleibt Roebling, vermutlich durch jahrelange Überarbeitung, nervlich extrem empfindlich. Auch als es ihm körperlich besser geht, lässt er selten jemand anderen zu sich als seine Frau.

     Wer übernimmt nun die Arbeit des Chefingenieurs? Für die Bauaufsicht bleibt Ingenieur Charles Cyril Martin zuständig. Doch das Herzstück, die Berechnung und Planung, will Roebling nicht aus der Hand geben. Es ist das Erbe seines Vaters. Und so bittet Emily Warren Roebling den Vorsitzenden der Brückenbaugesellschaft, Senator Henry Murphy, um ein Treffen. Ihr Mann sei zwar geschwächt, seiner Aufgabe aber gewachsen, überzeugt sie ihn. Murphy stimmt zu. Solange auf der Baustelle nichts schiefgehe. 

     Von nun an bildet das Paar ein einzigartiges Gespann in der Geschichte der Baukunst. In den folgenden elf Jahren bleibt er für die Außenwelt unsichtbar. Sie schreibt am Krankenbett seine Anweisungen für die Techniker an der Brücke auf. Jahrelang geht Emily Warren Roebling fast täglich auf die Baustelle und bespricht sie mit dem leitenden Ingenieur.

     Washington habe ihr eine Art Crashkurs in Brückenbau gegeben, sagt Kristian Roebling. Eine gute Schulbildung hat sie bereits. Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihr Bruder Gouverneur Kemble Warren, ein Mathematikprofessor, dafür gesorgt, dass seine 16-jährige Schwester auf eine weiterführende Schule geht. Jetzt liest sie Washingtons Fachbücher und lernt immer mehr über Materialstärke, Belastungsanalyse, Stahlseilkonstruktion und die Berechnung von Kettenlinien. Der Ingenieur Hamilton Schuyler, ein Freund der Familie, schreibt: „Mrs. Roebling war eine Frau von starkem Charakter und ungewöhnlich gebildet. Sie hatte einen beinahe männlichen Intellekt.“

     Fabrikanten treffen nicht auf den Chefingenieur, sondern auf seine Frau. Einige richten ihre Briefe ohne Umschweife an sie. Die „New York Times“ zitiert später einen „Gentleman, der die Familie gut kennt“: „Es stellte sich heraus, dass man vollkommen neuartig geformte Metallteile brauchen würde, die noch keine Fabrik hergestellt hatte. Die Vertreter kamen nach New York, um mit Mr. Roebling über deren Beschaffenheit zu beraten. Zu ihrer großen Überraschung setzte sich Mrs. Roebling mit ihnen zusammen und half ihnen mit ihrem technischen Wissen, das Problem zu lösen.“ Sie weiß, dass sie sich auf einem schmalen Grat bewegt. 1875 schreibt sie ihrem Bruder, ihr Mann nenne sie scherzhaft „Mrs. Jellyby“, eine Figur aus Charles Dickens’ Roman „Bleak House“, die sich fanatisch ihrer Arbeit widmet, statt sich um ihre Kinder zu kümmern.

     Dass sie während dieser Jahre informelle, aber effektive Studien betreibt, rettet den Fortgang der Arbeiten – und die Familienehre. Washington Roebling bleibt der Spiritus rector, aber, sagt Kristian Roebling, „sie war weit mehr als eine Botin. Sie musste seine Anweisungen umformulieren, interpretieren und weiter führen können, sonst hätte das Hin und Her viel zu lang gedauert. Dafür zollten die Männer auf der Baustelle ihr großen Respekt.“

     Auch in der New Yorker Gesellschaft ist Emily Warren Roebling bekannt und beliebt. Bei offiziellen Anlässen ist sie es, die den Chefingenieur repräsentiert. Sie spricht als erste Frau vor dem Verband der Amerikanischen Ingenieure. An einem Dezembertag 1881 überquert der Vorstand die halb fertige Brücke auf anderthalb Meter schmalen Planken, um auf der anderen Seite mit Champagner anzustoßen. Allen voran geht Emily Warren Roebling, begleitet von den Bürgermeistern beider Städte. Sie wirke trotz der Höhe unbekümmert und voller Tatendrang, beobachtet ein Reporter, die Gesellschaft scheine in bester Stimmung. Und das ist jetzt, kurz vor Vollendung der Brücke, ihr wichtigster Job: die Leute bei Laune halten und den Namen Roebling in einem guten Licht erscheinen lassen.

     In ihrem Haus in Brooklyn, einen knappen Kilometer von der Brücke entfernt, sitzt Washington Roebling am Fenster und verfolgt alles mit dem Fernglas, wie jeden Tag. „Der Mann am Fenster“ nennen die Leute ihn. Und sie reden. Der Chefingenieur habe seinen Verstand verloren, heißt es. Ein kranker Mann, der sein Zimmer nicht verlässt und dessen Frau die Fäden in der Hand hält, könne doch wohl nicht bei Sinnen sein. Einige sprechen von einem mysteriösen „Fieber“, an dem Roebling leide.

     Zehn Jahre nach Baubeginn werden die Rufe nach seinem Rücktritt lauter. Die Kosten liegen mittlerweile im zweistelligen Millionenbereich. Dafür hätte man die New Yorker lebenslang umsonst Fähre fahren lassen können, höhnt eine Zeitung. Daran ist allerdings nicht Washington Roebling schuld, sondern Korruption im Vorstand. Über Jahre sorgte der Unternehmer William Tweed dafür, dass Aufträge an Firmen des „Tweed-Ringes“ gehen, die dafür zahlen. Schwerer wiegt, dass der Chefingenieur sich mit Verweis auf seine Gesundheit weigert, den Einladungen des Vorstands Folge zu leisten.

     Im Juli 1882 – die Brücke ist fast fertig – kommt es zum Eklat. Seth Low,  Brooklyns Bürgermeister und Vorstandsmitglied, fährt zu Roebling. Als der sich weigert zurückzutreten, wiegelt Low Kollegen und Presse gegen ihn auf. Emily Warren Roebling hat noch drei Wochen Zeit bis zur alles entscheidenden Abstimmung. Sie wird zur Lobbyistin ihres Mannes und schreibt Briefe an einzelne Vorstandsmitglieder, einen bittet sie um ein Treffen. Am Ende votiert eine knappe Mehrheit für Washington Roebling.

     Als am 24. Mai 1883 Hunderttausende zur Eröffnung der Brücke kommen, verfolgt er die Feier vom Fenster aus. Auch US-Präsident Chester Arthur ist gekommen. Der Kongressabgeordnete Abram Hewitt sagt in seiner Rede: „Ein Name wird vielleicht nie in die Geschichtsbücher eingehen, aber wir dürfen ihn hier nicht verschweigen. Diese Brücke ist ein Denkmal des Engagements einer Frau und ihrer Fähigkeit zu einer höheren Bildung, die ihr allzu lange verwehrt worden ist. Der Name von Mrs. Emily Warren Roebling wird für immer mit all dem verbunden sein, das in der Menschheit bewundernswert ist und wunderbar in der Welt der Baukunst.“

     Mit 54 besucht die Selfmade-Ingenieurin doch noch eine Universität und studiert Jura. Doch Anwältin wird sie nicht mehr. Mit 59, 23 Jahre vor ihrem Mann, stirbt Emily Warren Roebling.

     Zwei Jahre später erhält zum ersten Mal in der Geschichte der USA eine Frau ihren Abschluss als Bauingenieurin.