mare, No. 146, Juni/Juli 2021

 

Die Millionen-Dollar-Nixe - Annette Kellermann

Wo diese Frau Wellen schlug, war ihr Aufmerksamkeit sicher: Die Australierin galt vor 100 Jahren nicht nur als erfolgreichste Varietékünstlerin der USA, sondern kämpfte auch für die Abschaffung der gefährlichen Badekleider des 19. Jahrhunderts

 

Der Skandal ist wohl geplant, und er erfüllt seinen Zweck. Sogar gründlicher, als Annette Kellermann es erwartet hatte. Die Badekleidung, in der die 20-jährige Australierin an einem Sommertag im Jahr 1907 am Strand von Revere bei Boston schwimmen gehen will, zeigt viel mehr von ihrem Körper, als die Polizei erlaubt: Statt eines mehrteiligen Strandkleids mit langem Rock und Strumpfhose trägt sie einen engen Einteiler, wie Männer ihn zum Schwimmen benutzen. Ihre Beine sind von der Mitte der Oberschenkel an nackt. Ein Wachtmeister nimmt sie wegen Exhibitionismus fest. In den Wochen darauf verfolgen Zeitungen im ganzen Land den Prozess, in dem die Showschwimmerin Kellermann ihr Verhalten rechtfertigt: „Wie unterscheiden sich die erlaubten Badekleider von Bleiketten? Frauen können nicht schwimmen lernen, wenn sie mehr Kleidung am Körper tragen, als auf eine Wäscheleine passt“, sagt sie dem Richter. Dass diese Fähigkeit lebensrettend sein kann, wird jetzt immer mehr Amerikanern klar. Erst drei Jahre zuvor waren in New York mehr als 1000 Passagiere des Ausflugsdampfers „General Slocum“ ertrunken, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. In ihrer Heimat, schreibt Kellermann später in ihrem Buch „How to Swim“, würden alle Kinder schwimmen lernen, ob Junge oder Mädchen. Der Richter lässt die Anklage gegen sie fallen und erklärt das Trikot für zulässig – mit einer Einschränkung: Die Beine dürften auch künftig nicht zu sehen sein, am Strand müsse ein Cape die Schultern bedecken. Der „Kellermann“, ein Damenbadeanzug mit Leggings und kurzem Rock, den die Angeklagte entwirft, wird zum Verkaufsschlager. Und Kellermanns Showkarriere geht jetzt richtig los. Dabei hatte ihr Vater sie damals in Sydney zwingen müssen, ins Wasser zu gehen. Eine schreiende, strampelnde Sechsjährige hatte er zu einem kleinen Schwimmbad gebracht. Ein Mädchen mit panischer Angst vor dem Wasser, das viermal so viele Stunden brauchte wie seine Geschwister, erinnert sich Annette Kellermann später. Trotzdem besteht Frederick Kellermann darauf, dass seine Tochter weiter übt, es ist seine letzte Hoffnung. Das Mädchen leidet an Rachitis, ihre deformierten Beine sind schmerzhaft in Stahlschienen eingezwängt. Laufen kann sie nur mit Mühe. Der dritte Arzt, den der Vater aufsuchte, hatte Schwimmen empfohlen, um ihre Muskulatur zu kräftigen. Es funktioniert. „Nur ein Krüppel kann mein Glücksgefühl nachempfinden, als ich merkte, dass meine Beine zunehmend normal aussahen“, schreibt sie. Bald beherrscht Kellermann alle Stile, gewinnt mehrere Wettbewerbe und stellt 1902, mit 15 Jahren, sogar einen Weltrekord im Frauenschwimmen auf: eine Meile in 32 Minuten und 29 Sekunden. Auch an gewagten Sprüngen versucht sie sich. „Sie war schnell und furchtlos“, erinnert sich Frank Baker, der mit seinem Bruder Snowy, dem späteren Trainer von Johnny Weissmüller und anderen Hollywoodstars, im selben Bad trainierte wie Kellermann. „Als sie das erste Mal versuchte, Snowys Sprünge zu kopieren, schlug sie hart auf dem Wasser auf und bekam kaum mehr Luft. Trotzdem kletterte sie sofort wieder die Leiter hoch.“ Sie lenkte niemals ein, sagt ihre Schwester Marcelle in Kellermanns Biografie „The Original Million Dollar Mermaid“. „Nichts und niemand zählte. Was zählte, war, dass sie die Erste und Beste war.“ Die Bewunderung, die Annette auf sich zieht, trägt bald zum Lebensunterhalt der Familie bei. Die Eltern müssen während der Wirtschaftskrise in den 1890er-Jahren ihre Musikschule in Sydney schließen. Die Mutter Alice, eine französische Pianistin, bekommt eine Stelle an einer Schule in Melbourne. Der Vater, ein aus Österreich stammender Violinist, radelt auf der Suche nach Arbeit durch die Stadt. Oft schaut er seiner Tochter im Schwimm bad zu, mit wachsendem Respekt. Madame Kellermann hält zunächst nichts davon, dass ihre Tochter halb nackt mit Männern um die Wette schwimmt. Sie ist entsetzt, als sie erfährt, dass Annette in einem Fischbecken des Melbourner Aquariums taucht. Doch die Leute sind begeistert von den Auftritten, und sie zahlen dafür. Ohnehin ist Annettes Lehrerin der Meinung, es wäre „für alle Beteiligten das Beste“, das aufrührerische Mädchen würde die Schule verlassen. Bald tritt Annette auch in anderen Städten auf. Doch Australien hat zu dieser Zeit gerade 3,8 Millionen Einwohner, gut ein Zehntel von Großbritannien. Noch mehr Geld, hofft ihr Vater, könnte sie als Schwimmerin in Europa verdienen. Dort zieht der junge Sport um die Jahrhundertwende Massen an. Tatsächlich versammeln sich in Paris Tausende Zuschauer an der Seine, wo Kellermann als einzige Frau mit 17 Männern an einem Langstreckenwettkampf teilnimmt. Nur vier schaffen es bis zum Ziel, Kellermann wird Vierte und zum Stadtgespräch. Sie darf ihr Können sogar einmal im elitären Londoner Bath Club vorführen. Wegen des strengen Protokolls – im Publikum werden ein Bruder von König Edward VII. und seine Gattin sitzen –, näht die 18-Jährige die längsten Strümpfe, die sie in den Geschäften finden kann, an ihren Herrenbadeanzug. In Australien sind solche Trikots Frauen bei Wettbewerben bereits erlaubt. Trotz solcher Erfolge wissen Vater und Tochter oft nicht, wie sie die Unterkunft für die nächste Nacht bezahlen sollen. Annette weiß nur eines: Je spektakulärer ihr Auftritt, desto seltener muss sie hungrig ins Bett. Deshalb schwimmt sie mehr als 40 Kilometer durch die verschmutzte Themse, treibt sich trotz Schmerzen bei dem Versuch an, den Ärmelkanal zu queren, denn ihr Sponsor, die Zeitung „Daily Mirror“, zahlt für jede Stunde, die sie im Wasser bleibt. Nach sechs Stunden muss sie erschöpft und vom Badeanzug wund gescheuert aufgeben. Ihre männlichen Mitbewerber durften nackt antreten. 1906 versuchen die beiden Kellermanns ihr Glück in den USA. In Chicago hat wenige Monate zuvor der Freizeitpark White City eröffnet, hier zeigt Annette als „australische Meerjungfrau“ ihre waghalsigen Sprünge. Um genug Geld zu verdienen, gibt sie 55 Shows in der Woche, Eintritt: zehn Cent. Nach dem Saisonende zieht sie nach Boston, wo der Skandal am Strand von Revere sie endgültig berühmt macht. „Als der Bademantel fiel, kam die Polizei“, werben die Plakate des Freizeitparks Wonderland. Dort arbeitet sie jetzt, wenn auch nur für kurze Zeit. Denn Benjamin Franklin Keith, der Besitzer eines Varietétheaters an der Fifth Avenue in New York, macht ihr ein unerhörtes Angebot: 300 Dollar in der Woche. Bald füllt sie die Zuschauerreihen hier und im New Yorker Hippodrom, in das 5000 Zuschauer passen und in dem auch der Entfesselungskünstler Harry Houdini und die russische Ballerina Anna Pawlowa auftreten. Kellermann begeistert mit einer ganz neuen Attraktion: dem Unterwasserballett, dreieinhalb Minuten kann sie die Luft anhalten. Jenseits der Bühne springt sie vom 21 Meter hohen Mast eines Schiffs, von Klippen aus fast 30 Meter Höhe, später aus einem Flugzeug und mit gefesselten Händen und Füßen in ein Bassin mit Krokodilen. Sie findet niemanden, der ihr eine Lebensversicherung verkaufen will. Doch binnen kürzester Zeit steigt sie aus prekären Verhältnissen auf zur bestbezahlten Varietékünstlerin der USA. Drei Jahre nach ihrer Ankunft verdient sie 1500 Dollar, jede Woche Natürlich sind Amerikas Moralwächter empört über diese Australierin mit ihren knappen Nixenkostümen. Die „New York Times“ berichtet über Kirchenanhänger, die gegen das „unmoralische Theater“ protestieren. Ein Bürgermeister lässt einmal Kellermanns Plakate entfernen, die sie in hautfarbenen Strumpfhosen mit glitzerndem Fischschwanz zeigen. „Das kann nur einen schlechten Einfluss auf unsere jungen Männer haben“, befürchtet er. Doch Kellermann setzt noch einen darauf. Als Star des Stummfilms, der jetzt das Varieté ergänzt, zeigt sie sich barbusig vor einem Millionenpublikum. Die Rezensenten sind begeistert; es nehme ja auch niemand Anstoß an den Statuen griechischer Göttinnen im Museum. Sie schwärmen von den Stunts, die Kellermann alle selbst übernimmt – unter anderem springt sie, verfolgt von einem wahnsinnigen Sultan, von einem Leuchtturm. Kellermann, die an Drehbüchern mitarbeitet, zeigt nicht nur Haut, sie lehrt auch Leinwandschurken das Fürchten: fechtend, von einem galoppierenden Pferd ins Wasser hechtend, einen Prinzen rettend. Beeindruckt schreibt ein Autor im „New York Times Journal“: Wer glaube, Frauen sollten als das vermeintlich schwache Geschlecht kein Wahlrecht erhalten, der sollte einmal Annette Kellermann im Kino sehen. Der auf den Bermudas gedrehte Film „Neptune’s Daughter“ (1914) spielt mehr als eine Million Dollar ein, „A Daughter of the Gods“ zwei Jahre später ist der erste Hollywoodfilm mit Nacktszenen. Nur wenige verdammen ihn als kalkulierten Versuch zu schockieren. Klingelnde Kassen übertönen solche Stimmen. Und wer will Kellermann noch verurteilen, wenn selbst Präsident Woodrow Wilson und seine Frau bei der Premiere im Publikum sitzen und den Film ganz wunderbar finden? Vielleicht liegt es auch an der Art, wie Kellermann sich als glaubwürdige Gesundheitsexpertin etabliert, dass sie überraschend wenig als Femme fatale angefeindet wird. Sie hält Vorträge über die Vorteile des Schwimmens für Leib und Seele. Sie isst kein rotes Fleisch, trinkt keinen Alkohol, raucht nicht, und nach einer Show am Broadway geht sie nicht in Nachtclubs, sondern fährt in ihrem weißen Buick an den Strand, um zu schwimmen. „Nirgendwo sonst“, sagt sie, „hat man das herrliche Gefühl, loslassen zu können und von allen Sorgen befreit zu sein.“ Nach ersten Artikeln in Zeitungen und der Fitnesszeitschrift „Physical Culture“ entwickelt Kellermann den Fernkurs „The Body Beautiful“, mehr als 40 000 Frauen bestellen diese Broschüre. Aus ihr geht schließlich 1918 das Buch „Physical Beauty – How to Keep It“ hervor, mit dem sie auch in Europa auf Vortragsreise geht. Annette Kellermann ist eine frühe Jane Fonda: Sie engagiert sich für die Gleichberechtigung und verdammt das Korsett, gleichzeitig legt sie Frauen mit ihrem Schönheitsdiktat ein neues an. Sie spricht von Perfektion und der Reorganisation des Körpers, von einem „System“, das Schutz vor Krankheit und Schwäche biete. Körperliche Schwäche ist nun einmal etwas, das sich Annette Kellermann seit ihrer Kindheit nicht mehr erlaubt. Mit Härte gegen sich selbst hat sie es geschafft, ihr Leben als Behinderte hinter sich zu lassen. Nie wieder wird jemand mit dem Finger auf sie zeigen – und wenn, dann, weil sie ein Star ist. Nur einen Menschen wird Kellermann nie dazu bringen können, die Angst vor dem Wasser zu überwinden und schwimmen zu lernen: ihren Ehemann und Manager James Sullivan. Mehr als 60 Jahre sind die beiden verheiratet. Nach seinem Tod kümmert sich Marcelle um sie und erfüllt im November 1975 die letzte Regieanweisung ihrer Schwester: Ihre Asche wird am Great Barrier Reef ins Meer gestreut.