Brigitte Biografie, Ausgabe 2/2016
Große Klappe, großes Herz
Frauen, die sich von den Stürmen des Lebens nicht so leicht umhauen lassen, nennt man in den Südstaaten der USA „Magnolien aus Stahl“. So eine war Countrysängerin June Carter. Während ihrer Ehe mit Johnny Cash hat sie viele Stürme überstanden – aber auch eine einzigartige Liebe erlebt. Vor 60 Jahren lernten sie sich kennen
Die 15-Jährige sitzt im Auto ihrer Eltern, ihr Gesicht mit dem großen Mund und den blauen Augen ist verheult. So war das schon vor drei Jahren, beim letzten Umzug. Damals mussten sie June Carter ins Auto zerren. Jetzt, im Frühjahr 1946, hat sie in Richmond, Virginia, ihren Schulabschluss gemacht. Am liebsten würde sie mit ihren Freundinnen aufs College gehen.
Stattdessen bricht sie mit ihrer Familie die Zelte ab, um das Leben weiterzuführen, das sie seit ihrem zehnten Lebensjahr kennt: auf der Bühne stehen, dort den Clown geben und gemeinsam mit der Mutter Maybelle und den Schwestern Helen und Anita singen. „Keep On The Sunny Side“ – nur einer der vielen Folksongs, den ihre Familie berühmt gemacht hat.
Zwei Jahre vor Junes Geburt haben sie ihren ersten Song aufgenommen, drei Jahre später schon 300 000 Platten verkauft. Valerie June Carter lebt damals in einer Hütte in den Appalachen in Virginia, am 23. Juni 1929 hineingeboren in eine einfache, tief religiöse und musikalische Farmerfamilie. Die Mutter Maybelle spielt Gitarre, in den 30er-Jahren tritt sie mit ihrer Cousine Sara und deren Mann als die „Carter Family“ auf, ab den 40ern mit ihren Töchtern als „Mother Maybelle and the Carter Sisters“.
June ist die hübscheste von ihnen, auch wenn sie nicht so perfekt singen kann wie die Schwestern – schon gar nicht jodeln wie die vier Jahre jüngere Anita, die sie zwickt, wenn June einen Ton nicht trifft. Aber vor allem hat sie das Zeug zur Entertainerin. „Wenn du keine besonders gute Stimme hast und alle um dich herum harmonieren, dann suchst du nach etwas anderem, das dir nützen könnte“, erzählt sie in ihrer Autobiografie. „Da ich nicht singen konnte, redete ich viel und versuchte, die schiefen Töne mit Witzen zu überspielen.“ Damit macht sie sich unentbehrlich. Sie tritt als „Tante Polly“ auf, mit komischen Hüten und knielangen Unterhosen, die unterm Rock hervorblitzen. Später bringt sie Blödel-Gags wie diese Nummer mit dem Kollegen Marty Robbins:
„Hey June, du hast dein Gesicht heute nicht gewaschen, man kann ja noch sehen, was du gefrühstückt
hast!“
„Ach ja, was denn?“
„Rührei.“
„Nein, das ist von gestern. Aber weißt du, was mit deinem Gesicht nicht stimmt? Es schaut aus deinem
Anzug raus!“
Das Publikum brüllt vor Lachen. Ohne sie und ihre große Klappe wäre die Show nicht dieselbe. Und deswegen will Vater Ezra, ihr Manager, dass sie mit ihnen zieht.
June fügt sich, sie liebt ja ihre Familie. Sie gewöhnt sich auch an dieses Wanderleben. Lernt, im Auto zu schlafen, tritt bis zu fünfmal am Tag auf, manchmal schmerzt ihr ganzer Körper von der Anstrengung. Aber sie weiß, dass die Musik ihr Erbe und ihre Zukunft ist. Dann würde sie eben „nicht aufs College gehen und keine durchschnittliche amerikanische Hausfrau sein“.
Die 15-Jährige hätte damals wohl nicht im Traum gedacht, dass sie im nächsten Jahrhundert immer
noch als Country-Ikone verehrt würde – fünf Grammys wird sie gewinnen. Und natürlich hatte sie keinen Schimmer davon, dass sie einen der einflussreichsten Musiker der Country- und Rockgeschichte heiraten würde, Johnny Cash.
Der heißt damals noch John Ray Cash, zur Welt kommt er am 12. Februar 1932 in Arkansas. Während June Ende der 40er-Jahre auszieht, die Bühne zu erobern, pflückt er noch Baumwolle auf den Feldern seines strengen Vaters. In seinem Herzen ist damals schon dieser große, traurige Fleck, der lebenslang bleibt: 1944 ist sein geliebter Bruder Jack nach einem Unfall im Sägewerk gestorben. Sein Vorbild und Beschützer: der tief gläubige Jack, der oft bis spätabends in der Bibel gelesen hat, während John lieber vor dem Radio saß und gebannt der Musik lauschte.
Mit 18 verliebt sich dieser Junge endgültig in die Frau, deren Stimme er schon Hunderte Male im Radio gehört hat. Er sieht die drei Jahre ältere June Carter bei einem Oberstufenausflug seiner Highschool zur „Grand Ole Opry“, der berühmten Countryshow in Nashville, Tennessee, die landesweit live im Radio übertragen wird. „An diesem Abend hatte sie auch einen Soloauftritt mit ihrer Comedynummer. Sie war großartig. Sie war wundervoll. Sie war ein Star. Ich verknallte mich total in sie“, erzählt er in seiner zweiten Autobiografie „Cash“.
Der 7. Juli 1956 ist der Tag, an dem sie sich zum ersten Mal gegenüberstehen. Diesmal spielt auch Cash in der Opry, es ist seine Premiere dort. Anmoderiert wird er ausgerechnet von June Carters Noch-Ehemann, dem Country-Sänger Carl Smith, von dem sie schon getrennt lebt. Inzwischen hat auch June von Johnny Cash gehört – über Elvis Presley, mit dem sie 1955 auf Tour war. Immer wieder warf er Münzen in die Jukeboxen der Cafés, um ihr Cashs ersten Hit „Cry, Cry, Cry“ vorzuspielen. Er schwärmt ihr von Cashs einzigartiger Stimme vor: „Damit macht er die Mädels verrückt.“ Noch als über 70-Jährige erzählt June von dem Gefühl, das Johnny Cashs Bassbariton in ihr auslöste, als sie ihn zum ersten Mal hörte: „Er klang so einsam. Es erinnerte mich an etwas, das ich selbst fühlte, tief in mir. Es kam mir so vor, als hätte jeder von uns ein Teil, das dem anderen fehlte.“
Als die beiden sich an diesem Julitag 1956 begegnen, habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben einem Mann nicht in die Augen schauen können. Ein merkwürdiges Gefühl sei das gewesen. „Irgendwann platzte ich einfach mit dem Satz heraus: ‚Ich habe das Gefühl, dich schon zu kennen.‘“ Cash erzählt von diesem ersten Treffen ganz anders: „Ich ging zu ihr hin und sagte ohne Umschweife: ‚Du und ich, wir werden eines Tages heiraten.‘ Sie lachte. ‚Wirklich?‘, fragte sie. ‚Ja.‘ ‚Also gut‘, sagte sie. ‚Ich kann es kaum erwarten.‘ Und damit war der Anfang gemacht.“
Sollte seine Version stimmen, dann hat er sich einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht: Er ist verheiratet, und June steckt in der Scheidung von Carl Smith, die kurz darauf rechtskräftig wird. Danach bekommt sie Briefe, in denen bibeltreue Amerikaner sie fragen, wie sie sich jetzt noch Christin nennen könne. Außerdem lebt sie an der Ostküste, mit ihrer Tochter Carlene, die erst ein paar Monate alt ist. „Wenn dein Herz gebrochen ist, sammelst du die Stücke auf, nimmst dein kleines Mädchen und steigst in ein Flugzeug nach New York City“, schreibt sie in ihren Memoiren. Den Bruch ihrer Ehe 1956 sieht sie auch als Wendepunkt – und als Chance. Sie versucht, ihren Traum von einer Filmkarriere wahr werden zu lassen.
Doch der endet abrupt, als ein Studioboss bei einer „Probe“ versucht, sie ins Bett zu bekommen. Sie soll eine Prostituierte spielen, er selbst will den Part des Freiers übernehmen. June tritt ihn gegen das Schienbein und schreit ihn an, als er übergriffig wird: „Glauben Sie, ich wäre blöd, nur weil ich einen Südstaatenakzent habe? Wenn Mädchen auf diese Weise zum Star werden, dann werde ich eben keiner!“ Der Zorn der Hölle, sagt June Carter, sei nichts im Vergleich zu dem eines Mädchens aus den Bergen Virginias, dessen Ehre man verletzt hat.
Auch Schauspielkollege James Dean soll sie umschwärmt haben. Doch June entscheidet sich für den bodenständigen Polizisten Edwin Nix; 1957 heiraten sie, 1966 wird auch diese Ehe geschieden.
Es lässt sich nicht exakt rekonstruieren, wann sie und Johnny Cash ein Paar wurden. Vielleicht ist es auch schwieriger für sie, sich und anderen das einzugestehen, zumal die Öffentlichkeit es ihr übel nimmt, dass ihre beiden Ehen scheitern. Spätestens 1962 muss ihr aber klar gewesen sein, dass sie John liebt – da ist sie schon mehrere Monate mit ihm auf Tournee und schreibt zusammen mit Merle Kilgore ein Lied, in dem es um ihre Gefühle für den Sänger geht: „Ring Of Fire“. Der Song mit dem prägnanten Trompeten-Intro wurde Johnny Cashs bekanntester Hit, blieb sieben Wochen auf Platz eins, verkaufte sich millionenfach. Später sangen ihn Tom Jones, Frank Zappa und Madonna. Die Idee zu dem Songtext soll June Carter in einer Nacht gekommen sein, als sie ziellos umherfuhr, um ihre Gefühle zu ordnen, und ihr klar wurde, dass sie John liebt. Und dass diese wie Feuer lodernde Liebe keine einfache würde.
Denn inzwischen zeigt sich John von einer anderen Seite. Wenn er high ist, wirft er mit Stühlen um sich und tritt Türen ein. In der Opry bekommt er 1965 Hausverbot, weil er Scheinwerfer zertrümmert hat. Im Kofferraum hat er eine Kettensäge dabei, falls er aus zwei nebeneinanderliegenden Hotelzimmern eine Suite bauen will. Und er hat Junes neuen Cadillac zu Schrott gefahren.
Es sind diese Pillen, die, wie Cashs Bassist Marshall Grant sagt, den „großartigsten Kerl der Welt in das größte Arschloch der Welt verwandeln“: Amphetamine, die im Zweiten Weltkrieg Soldaten wach und aggressiv machten und die in den 50ern populär werden. Truckfahrer schlucken sie und auch Elvis und andere Kollegen. Sein erstes Speed nimmt Cash 1957 und ist von dem Effekt begeistert: „Es gab mir Energie und schärfte meinen Geist, es vertrieb meine Schüchternheit, es turnte mich an, wie Strom, der durch eine Glühbirne fließt“, schrieb er später. „Die Pillen wurden mit einer Fülle netter kleiner Namen versehen und es gab sie in allen Formen und Farben. Diese schwarzen brachten einen bis nach Kalifornien und zurück, in einem 53er Cadillac, ohne zu schlafen.“
Immer wieder stiehlt June seine Zimmerschlüssel, durchsucht seine Hotelzimmer nach den Pillen, spült Hunderte die Toilette hinunter. Aber Cash findet immer wieder jemanden, der sie ihm verschreibt oder verkauft. Einmal wird er dafür an der mexikanischen Grenze festgenommen.
Im Oktober 1967 hat sie die Nase voll. Als sie ihm sagt, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will, verliert er seinen letzten Halt. Cash, auf 70 Kilo abgemagert und seit Tagen schlaflos, stirbt beinahe, als er mit seinem Traktor in den See vor seinem Haus stürzt. Und so bleibt June doch. Sie hilft ihm bei seinem ersten Entzug. Auch weil ihre Eltern und eine Freundin sie unterstützen. Einen Dealer, der sich weigert zu gehen, vertreiben sie mit einem Schlachtermesser. John ist für Ezra und Maybelle Carter schon fast wie ein Sohn. Eine Zeit lang hat er bei ihnen in Nashville gewohnt, sein Haus liegt nur 30 Kilometer außerhalb. Sie kennen seine Ausraster, auch bei ihnen hat er schon Türen eingetreten. Doch sie bleiben mit June in den ersten qualvollen Wochen an seiner Seite. Vor allem der Entzug von den Barbituraten, den Schlafmitteln, die er im Wechsel mit Speed nahm, wird zum Höllentrip. Er randaliert auf der Suche nach Stoff, er schwitzt und halluziniert, eine Glaskugel würde in seinem Magen wachsen und dann explodieren: „Ich spürte, wie die Glasstückchen vom Herzen in die Adern meiner Arme, Beine, Füße, des Nackens und durchs Gehirn gepumpt wurden, ja einige kamen sogar durch die Poren meiner Haut.“ Manchmal sind es auch Holzsplitter oder Würmer.
Ohne ihre Familie hätte June es wohl nicht geschafft, diese Zeit mit ihm durchzuhalten. Und so ist es nur konsequent, dass der Carter-Clan dabei ist, als Johnny Cash ihr 1968, wenige Wochen nach der Scheidung von seiner Frau Vivian Liberto, einen Heiratsantrag macht. Vor rund 7000 Zuschauern. Maybelle, Helen und Anita stehen bei einem Konzert in Kanada mit auf der Bühne, als er mitten im Duett „Jackson“ abbricht und sagt: „June, ich habe dir etwas zu sagen. Willst du mich heiraten?“ In einer Talkshow erinnert sie sich: „Ich sagte: John, du bringst mich vor all diesen Leuten in Verlegenheit!“ Doch er habe sich geweigert, zu singen, wenn sie ihm nicht antwortet. „Ich versuchte, den Song weiter zu singen, zu summen, das Thema zu wechseln. Ich drehte mich zu meiner Mutter um und sagte: ‚Spiel Wildwood Flower!‘ Aber sie stand nur da und lächelte.“ Sie sagt immer wieder zu John: „Hör auf damit!“ Aber er grinst und wartet. Die Leute im Publikum feuern sie an. Und schließlich sagt sie Ja.
Diesmal will sie es richtig machen. Während es für Johnny Cash weiter bergauf geht – 1968 nimmt er sein berühmtes Livealbum im Folsom-Gefängnis auf, 1969 bekommt er eine Fernsehshow zur besten Sendezeit – ordnet sie ihre Karriere seiner unter. 1970 kommt das erste und einzige gemeinsame Kind zur Welt: John Carter Cash. Zwar singt June noch mit ihrem Mann, 1975 erscheint sogar ihr erstes Soloalbum. Doch dann kommt erst mal lange nichts. „Ich wollte keine Karriere, sondern eine Ehe“, sagt sie.
Wahrscheinlich ist tatsächlich beides nicht zu haben mit einem Mann, der nie ganz von den Tabletten und vom Alkohol loskommt. Auch Junes Töchter und der Sohn haben Drogenprobleme. Und das ist zu viel, auch für eine starke Frau aus den Appalachen. In den 90er-Jahren merkt ihr Sohn, dass auch seine Mutter abhängig von Schmerz- und Schlaftabletten geworden ist. Manchmal ist sie verwirrt und kann Sätze nicht mehr beenden. Ihre Abhängigkeit ist unauffälliger als die Exzesse ihres Mannes früher. Der Sohn akzeptiert es, der Ehemann auch. Vielleicht denkt er, gerade er habe kein Recht, ihr etwas vorzuwerfen.
Ihre Liebe übersteht auch das. Musikalisch feiern beide, grauhaarig und um ein paar Falten reicher, ein grandioses Comeback. Johnny Cash, den seine Plattenfirma Columbia längst abgeschrieben hat, nimmt mit Rick Rubin, dem Produzenten der Red Hot Chili Peppers und der Beasty Boys, wieder Alben auf und singt zusammen mit June 1994 beim Glastonbury Musikfestival in England vor fast 80 000 Fans. June produziert mit 70 ihr zweites Album. Es heißt „Press On“ – Mach weiter –, so als hätte sie das vor 30 Jahren einfach vergessen. Als sie dafür einen Grammy bekommt, den ersten für ein Solowerk, lächelt sie, Johnny Cash flippt fast aus vor Freude.
2002, im Jahr vor ihrem Tod, versammelt die Matriarchin noch einmal ihre Lieben um sich, in dem Holzhaus ihrer Eltern in Virginia. Das Wohnzimmer wird zum Aufnahmestudio. John, Carlene, die Schwiegertochter, Enkel und Cousins sind Band und Backgroundchor. Man hört sie lachen, wenn June eine Anekdote erzählt. „Wildwood Flower“ ist ein berührendes Album. An ein paar Stellen haut die Sängerin immer noch daneben, doch ihre Stimme klingt jetzt fast schöner als früher – tiefer und reifer. Natürlich geben sie und ihr Mann die schmissigen Duette von früher zum Besten, aber June singt auch Songs, die davon handeln, dass einer von beiden zuerst sterben wird. „Wildwood Flower“ erscheint kurz nach June Carters Tod. Am 15. Mai 2003 stirbt sie an den Folgen einer Herz-OP, vier Monate vor Johnny Cash. Posthum erhält sie für das Album zwei Grammys.
In seiner Autobiografie erinnert sich Johnny Cash an eine Begegnung während des Glastonbury Festivals: Nach ihrem Auftritt sei ein 19-Jähriger bei ihnen aufgetaucht, gepierct, mit Tattoos und „stacheligen Haaren“, der habe June sanft auf die Schulter geklopft und gesagt: „Mrs. Cash, Sie haben’s wirklich voll drauf.“ Er schreibt: „Ich erinnere sie immer gern daran, wenn sie niedergeschlagen ist. ‚Mrs. Cash, machen Sie sich keine Sorgen‘, sage ich dann. ‚Sie haben’s wirklich voll drauf.‘“